Lena* sitzt auf dem kleinen Holzstuhl am Tisch der Amsel-Gruppe*. Die Fünfjährige und zwei andere Mädchen malen Bilder mit Buntstiften. Ihre Tischnachbarin greift nach dem blauen Stift, mit dem gerade Lena noch gemalt hat. Lenas Blick erstarrt, dann schreit sie und spuckt.
„Lena ist traumatisiert, sie musste früh aus ihrer Familie herausgenommen werden“, ordnet Ella Zimmer das Beispiel ein. Ella Zimmer ist Erzieherin in der Kindertageseinrichtung „Sinnesgarten“ der Kinderheilstätte in Nordkirchen. „Lena braucht, dass alles ihr gehört. Für sie ist es schlimm, wenn andere ‚ihre‘ Dinge nur anfassen.“ Aus Lenas Hilflosigkeit und Wut heraus entsteht manchmal ein extremes Verhalten. So wurde Ella Zimmer schon von Lena gebissen. „Sie meint das nicht böse“, versichert die 25-Jährige, dennoch ist so ein auffälliges Verhalten eine Herausforderung, die alle betrifft. Andauernd zu mäkeln oder zu reglementieren, sei aber nicht die Lösung, ist das Team der Erzieherinnen und Erzieher sich einig.
„Wir wollen auf die Stärken der Kinder schauen“, sagt Einrichtungsleiterin Stefanie Schmidt, „und sie unterstützen“. Um diesen Ansatz zu fördern, entschied sich das Team der Kita dazu, gemeinsam an einer traumapädagogischen Fortbildung teilzunehmen. Als eine von drei Kindertageseinrichtungen der Caritas im Bistum Münster wurde ihre Einrichtung ab Sommer 2023 ein halbes Jahr lang durch eine Expertin intensiv begleitet – finanziert durch Spendengelder der Caritas GemeinschaftsStiftung für das Bistum Münster.
Ins Leben gerufen hat die besondere Fortbildung die Caritas für das Bistum Münster. „Die Anfragen, wie ein guter Umgang mit Kindern mit herausfordernden Verhaltensweisen aussehen kann, nehmen zu“, erlebt Andrea Kapusta, Referentin für Fort- und Weiterbildung der Caritas für das Bistum Münster. Der steigende Bedarf mache eine verstärkte fachliche Auseinandersetzung notwendig und habe den Anstoß gegeben, eine traumapädagogische Fortbildung anzubieten.
„Ich habe gelernt, mich besser in traumatisierte Kinder hineinzuversetzen“, sagt Ella Zimmer: „Statt eine Verletzung persönlich zu nehmen, weiß ich jetzt, Lena macht es nicht extra.“ Das helfe, selbst nicht wütend zu werden und die Situation auf anderem Weg zu entschärfen. „Wenn Lena beißt, sagen wir jetzt zum Beispiel, ‚Hey, ich bin doch kein Schnitzel‘ und gucken, was sie gerade braucht.“ Dass die Mitarbeitenden sich handlungsfähiger fühlen, helfe auch den Kindern.
Natürlich gebe es aber auch Regeln, sagt Stefanie Schmidt. Kindliches Ausprobieren und Situationen, in denen Kinder klare Grenzen brauchen, ließen sich allerdings gut abgrenzen von auffälligem Verhalten, das einen anderen Umgang erfordert: „In der Regel lässt sich bei Kindern gut nachvollziehen, weshalb sie wütend sind. Wenn ein Kind aber hilflos ist und durch Schreien signalisiert: ‚Ich komme hier nicht weiter‘, steckt dahinter eine große Ohnmacht. Kinder, die ein extremes Verhalten zeigen, brauchen gerade etwas anderes als eine Zurechtweisung – das ist ein Schrei nach Hilfe.“
Es sei eine Herausforderung für Kinder, einen guten Umgang mit sich selbst zu finden und herauszufinden, was ihnen gut tut, sagt Stefanie Schmidt: „Oft erfahren verhaltensauffällige Kinder Ablehnung und das Gefühl, nicht richtig zu sein.“ Die Kita sei ein geschützter Rahmen mit der Möglichkeit, sich selbst gut kennenzulernen. Später in der Schule wehe ein anderer Wind. Lena hilft es zu schaukeln, haben die Erzieherinnen mit ihr gemeinsam herausgefunden. Das beruhigt sie. Darum gibt es neben der Schaukel für alle jetzt noch eine extra Lena-Schaukel. Das sei eine von vielen individuellen Lösungen.
Kita-Leiterin Stefanie Schmidt wünscht sich mehr ressourcenorientierten Umgang mit Kindern, die herausforderndes Verhalten zeigen. „Kinder, die ohnehin ein schweres Päckchen zu tragen haben, sollten nicht zusätzlich die Erfahrung machen müssen, nicht passend zu sein und zu scheitern.“
Die Mittel für die traumapädagogische Fortbildung stellte der Stiftungsfonds „Stiftung
KiTa – Bildung. Qualität. Innovation.“ der Caritas GemeinschaftsStiftung für das Bistum Münster zur Verfügung. Die Fortbildungen konnten durch Spenden finanziert werden, die im Rahmen der Verabschiedung des ehemaligen Direktors der Caritas für das Bistum Münster, Heinz-Josef Kessmann, gesammelt wurden.
*Namen von der Redaktion geändert
Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich – die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto „Not sehen und handeln“ sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM – Katholischer Verein für
Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.
016-2024 (bü) 26. März 2024